Am Limit: Vivien Labarile trotzt der Schwerkraft
Die Oberwalliserin über ihr Leben als Kletterin, wie man die Angst überwindet und welche Rolle die Psyche beim Klettern spielt.
Vivien beisst die Zähne zusammen, ihr Gesichtsausdruck ist grimmig. Sie stösst den Fuss kräftig ab, schwingt sich hoch – und verfehlt den kleinen Griff um Millimeter. Schwer atmend hängt sie im Seil. Ein paar Minuten Pause gönnt sie ihren übersäuerten Unterarmen. Dann setzt sie zum nächsten Versuch an. Nur die Spitzen ihrer Kletterschuhe stehen auf der Felskante, mit der linken Hand hält sie eine feine Leiste. Erneut löst sie den Sprung aus, und die Finger ihrer rechten Hand krallen sich am kleinen Griff fest. Zum Jubeln bleibt keine Zeit: Bereits platziert sie den linken Fuss höher, dreht den Körper näher zum Felsen, klettert weiter.
«Klettern hat mich vom ersten Tag an
fasziniert und begeistert.»
Die psychische Überwindung
«Sobald ich den ersten Sturz des Tages hinter mir habe, geht es besser», so die Zwanzigjährige. Klettern ist psychisch anspruchsvoll. Man braucht einen guten Kopf: «Sobald ich ein paar Meter über die letzte Sicherung klettere, fühle ich die Angst im Bauch.» Trotz der Angst weiterzuklettern, ist für Vivien die grösste Herausforderung – und gleichzeitig Motivation. Sie muss sich wieder und wieder überwinden, weiterzumachen, auch wenn ihre Arme schon müde sind und die Züge hart. Sie redet sich selbst gut zu in diesen Situationen, sagt sich selbst immer wieder: «Ich kann das, ich schaffe das, ich klettere jetzt einfach weiter.» Klettern sei Mentaltraining, erzählt sie. Die Psyche entscheidet darüber, wie gut man klettert. Das braucht Übung: «Je mehr ich trainiere, desto besser kann ich die Angst kontrollieren, sie rückt immer mehr in den Hintergrund.»
Über sich hinauswachsen
Vivien klettert mit Seil, trotzdem lauern Gefahren. Dauernd muss sie die Situation einschätzen: Wo würde ich hinfallen, wenn ich stürze? Knalle ich auf das Felsband unter mir? Vivien sucht dieses Limit, diese Grenze des Möglichen. Wie klein darf der Griff sein, damit ihre Finger ihn gerade noch halten können, Vivien der Schwerkraft noch trotzt? Sie freue sich jedes Mal, wenn sie die Grenze überwinde, die Fortschritte sehe. Eine schwere Route zu klettern, braucht Geduld. Oft benötigt Vivien mehrere Versuche, kommt immer wieder zurück ins gleiche Gebiet. «Wenn ich eine Route schliesslich klettern kann, bin ich stolz auf mich. Mir geht es nicht darum, allen zu erzählen: ‹Hey, ich habe diese Route geschafft.› Es geht darum, über mich selbst hinauszuwachsen und zu fühlen: Ich kann das, ich muss nur daran glauben!»
«Klettern ist Kopfsache: Die Psyche entscheidet
über Erfolg oder Sturz.»
Der Traum von Saas-Fee
Im Winter tauscht Vivien ihre Kletterfinken gegen Steigeisen: Sie bestreitet Wettkämpfe im Eisklettern. Am allerliebsten klettert sie vor Heimpublikum: «In Saas-Fee ist die Stimmung genial. Ich bekomme so viel lokale Unterstützung, auf diese Wettkämpfe freue ich mich immer wahnsinnig!» Im Parkhaus in Saas-Fee, wo der Ice Climbing World Cup jedes Jahr stattfindet, ist das Publikum auf mehreren Stockwerken hautnah an den Athletinnen und Athleten dran. Das Publikum klatscht, pfeift und johlt, bei Vivien besonders laut. «In Saas-Fee Weltmeisterin zu werden, das wäre mein Traum!», erzählt Vivien. Lange muss sie vielleicht nicht mehr warten: Letztes Jahr holte sie im Parkhaus des Gletscherdorfes die Bronzemedaille im Lead-Klettern.
Klettern als Lebenseinstellung
Viviens blaue Augen leuchten, wenn sie von ihrer grossen Leidenschaft erzählt. Man sieht ihr die Kraft und Stärke nicht auf den ersten Blick an. Die langen blonden Haare verdecken die Muskeln an Oberarmen und Schultern. «Manchmal sagen die Leute zu mir, ich hätte so breite Schultern», lacht Vivien. Klettern ist nicht nur Sport für sie, es ist ihr Leben. Seit sie mit zwölf Jahren das erste Mal an einem Klettertraining des Alpenclubs teilnahm, ordnet sie dem Klettern alles unter. Die Wochenenden verbringt sie am Fels, zusammen mit ihrem Freund. Sie schlafen in ihrem Van in den Bergen, um so viel Zeit wie möglich zu klettern.
Vivien fliegt wieder durch die Luft, ihre Hände packen den Felsvorsprung über ihr. Ihr ganzer Körper schwingt, bevor die Füsse wieder Tritt fassen. Dynamische Züge liebt sie, «weil man nie genau weiss, was auf einen zukommt!»