IKARUS 2.0

Er ist nicht aufzuhalten, unbeugsam, stürmisch. Profi-Snowboarder, Musiker, Freigeist. Grenzen kennt er nicht, Hürden stoppen ihn nicht, vorgefertigte Normen akzeptiert er nicht. Pat Burgener fliegt zur Sonne und weiter – seine Flügel behält er.

Pat Burgener wurde 1994 zwischen zwei Brüdern, Max und Marc-Antoine, in Lausanne geboren. Den drei Söhnen sagten die Eltern: «Ihr spielt alle ein Instrument und macht einen Sport.» Mit fünf begann Pat, Gitarre zu spielen, im Sport kam zuerst Tennis, dann Skifahren, letztlich Snowboard. In der Schule war er unglücklich, wollte sich mit Sprachen, Musik und Kunst beschäftigen. Mit Mathematik, Biologie und Chemie war der Wildfang nicht auf dem Stuhl zu halten. Er rebellierte.

Leiden eines Freidenkers
«Schule hat mir nichts gebracht – wirklich gar nichts!», sagt der heute 25-jährige Pat mit Nachdruck. Wir sitzen in einem Café in Lausanne, die Sonne lässt das Kopfsteinpflaster in der Altstadt aufleuchten, auf dem Tisch vor uns stehen zwei Rooibos-Tees. «Viele haben mir damals das Leben schwer gemacht, einfach weil ich diesen ‹normalen› Weg hinterfragt habe und immer für meine Werte eingestanden bin», erzählt er und nimmt einen Schluck Tee. «Wir geben allgemein zu viel auf das, was andere denken oder was uns das System vorgibt. Ich bin kein respektloser Mensch, weisst du. Wirklich nicht. Aber wir müssen uns aus vorgefertigten Mustern befreien, um unseren eigenen Weg zu finden.» Wer nicht für seine Werte einstehe, lasse andere sein Leben bestimmen. Eine Verschwendung, findet Pat. Auch er musste das erst lernen. «Lange habe ich mich sogar geschämt, zu sagen, dass ich Profi-Snowboarder bin», sagt er und fixiert meine Augen, wie um die Bedeutungsschwere des Satzes in mir nachhallen zu lassen. Dann fährt er fort: «Aber der Beruf Snowboarder, dieser Lebensweg, hat nicht im System existiert, also war er falsch.» Für Freigeist Pat ein unsinniges und langweiliges Gedankengefängnis. Alles, was nicht Business sei, habe einen schweren Stand in der Schweiz. So auch Sport und Musik.

Aber Pat liess sich von den eng gezogenen Grenzen landläufiger Wertvorstellungen und akzeptierter Biografien nicht aufhalten. Der Vater mietete jeden Sommer eine Wohnung in Saas-Fee, damit Pat ganzjährig aufs Brett konnte. Wie üblich ignorierte er, was alle anderen machten, und konzentrierte sich nicht auf eine Disziplin. Er machte alles – Halfpipe, Slopestyle und Big Air. Mit 14 kam das Ausnahmetalent ins Schweizer Nationalteam und stieg voller Tatendrang sofort aus der Schule aus. Schnell wurde er zum Shootingstar der Nationalmannschaft, alles beobachtete ihn, erwartete olympische Medaillen.

Gefahren des Ruhms
«Wie hat dich der Ruhm in jungen Jahren verändert?», frage ich, und Pat schweigt kurz. «Es war nie mein Ziel, berühmt zu werden. Ich habe einfach meinen Weg gesucht und musste meinem Herzen folgen», sagt er dann. Aber mit 14 um die Welt zu reisen, nur Rampenlicht und Pisten – das birgt Gefahren. Pats rebellischer Charakter, sein Unvermögen, Grenzen zu akzeptieren, und sein Drang, das Leben in vollen Zügen zu geniessen, beendeten fast seine junge Karriere. Die Siege blieben aus, ständig war er verletzt. «Der Druck war zu gross, ich war abgelenkt», erzählt er weiter. Die Verletzungen haben 2013 angefangen, eine nach der anderen. «Plötzlich habe ich angefangen zu verstehen: Mit Snowboarden könnte es jetzt vorbei sein. 2014 war ich so weit weg vom Fenster, dass ich überlegt habe, aufzuhören», erzählt er nüchtern. Von der Piste verbannt, wandte er sich der Musik zu, spielte tagelang Gitarre und Klavier, komponierte Lieder aus seinen Ängsten. Er fand Ruhe darin und Inspiration – Stärke, letztlich sich selbst. Die Musik machte ihn bescheiden, er fand wieder Bodenhaftung. Der Sprung zurück an die Weltspitze im Snowboard schaffte er leicht.

Freiheit und der Sinn des Lebens
«Ich brauche die Musik neben dem Sport. Sie erdet mich, macht mich stark», erklärt er und lässt seinen Blick durch das Café schweifen. Während er lebhaft weitererzählt, wird der Tee in seiner Tasse kalt. Neben der Snowboarder-Karriere schreibt Pat Songs, nimmt sie auf, produziert seine eigenen Videos, geht auf Tour. Mittlerweile steht er bei Universal Music unter Vertrag. Er habe aber nur unter der Bedingung unterschrieben, dass er alle künstlerische Freiheit behalte, wie er betont. Da ist er kompromisslos. Wie er denn Freiheit definiere? Ich erwarte eine betretene Stille. Aber Pats Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen: «Ganz einfach: jeden Tag zu entscheiden, wohin du gehst und was du tust. Du steuerst dein Leben, niemand sonst.» Ich hole zum zweiten Schlag aus: «Bist du denn frei?» Er lacht. «Ich bin der freiste Mensch der Welt! Ich bin an einem Punkt angekommen, wo mir niemand irgendwelche Vorschriften macht oder entscheidet, was ich zu tun habe. Für diese Freiheit habe ich lange gekämpft», erklärt er.

«Lange habe ich mich geschämt, zu sagen,
dass ich Profi-Snowboarder bin!»

Pat verreist oft allein, um sich immer wieder Neuem auszusetzen. Wenn er reist, hat er immer die Gitarre dabei.
(Instagram: @patburgener)

Ikarus und die Moral der Geschichte
Wir sprechen noch eine Weile über seine Songs, dann über sein letztes Album. Mittlerweile ist es dunkel geworden, wenig später wird Pat im Klub unter dem Café auf der Bühne stehen. Er will seine Stimme eigentlich schonen. Aber warum er sein Album «Icar» getauft hat, will er mir noch erzählen.

«Du kennst doch den Mythos. Die landläufige Moral der Geschichte ist, dass man nicht übermütig werden und nach den Sternen greifen soll, sonst passiert etwas Schlimmes. Das ist aber nicht die gesamte Geschichte. Ikarus Vater hat nämlich gesagt, dass er nicht zu hoch und nicht zu tief fliegen soll. Eigentlich heisst das nichts anderes als: Bitte immer schön in der Mitte und ja nicht ausscheren. Genau das aber sollten wir nicht tun, wir sollten alle unseren eigenen Weg finden! Wir sollten alle Ikarus folgen und so hoch fliegen, wie wir wollen und können!» Pats Stimme bebt vor Leidenschaft. «Aber im Mythos stirbt Ikarus doch am Ende? Sein Tod war die Strafe für den unverschämten Griff nach dem Göttlichen …», erwidere ich, angestrengt mein Mythologiewissen bemühend. Pat schüttelt den Kopf: «Genau das ist das Problem! Der Ikarus-Mythos wird so gedeutet, aber wer hat sich wohl diese Botschaft ausgedacht? Man muss das Leben leben! Lass dir von niemandem sagen, wie hoch du fliegen oder wohin du gehen kannst. Niemand sagt mir, ob ich zur Sonne fliegen kann oder noch weiter. Selbst wenn es einmal zu hoch geht, stürzt du halt ab, stehst auf und machst weiter. Aber wenn du aus Angst nie aus der Reihe tanzt, folgst du deinem Herzen nicht und kannst dein Glück nie finden. Aber das hat jeder von uns verdient. Nicht?»

«Freiheit ist, jeden Tag zu ent-scheiden,
wohin du gehst und was du tust.»

Bilder: Wabs/Etienne Claret