Zitronen des Lebens
Skicrosserin Fanny Smith über ihr Leben, Erfolg und wie sie zur Kämpferin wurde. Oder: Wie man die Hürden des Lebens mit der richtigen Einstellung bewältigt. Ein Cappuccino-Gespräch.
Strahlender Sonnenschein lässt die Mischabelkette golden aufleuchten, während wir über die Strasse gehen. Sie schaut kurz wehmütig hoch auf das schneebedeckte Allalin. Dort oben will sie sein, mit Skiern an den Füssen und Fahrtwind im Haar. Aber Sturmböen auf 3500 Metern zwangen die Bergbahnen, das Gletscherskigebiet an diesem sonst makellosen Sommertag zu schliessen und damit Skicrosserin Fanny Smith zum Interview im Dorf mit mir.
«Skifahren bedeutet für mich Freiheit.»
Wir lassen uns in die braunen Ledersofas im Hotel Popcorn fallen, Fanny in Sportleggings, schwarzer Trainingsjacke, Mütze und einem erwartungsvollen Blick in den wasserblauen Augen. Ich krame meine Unterlagen aus der Tasche, sie wartet geduldig. 27 Jahre jung ist die Waadtländerin, an den letzten Olympischen Spielen hat sie Bronze im Skicross gewonnen, an den Weltmeisterschaften der letzten Jahre hat sie Bronze, Silber und Gold geholt – genauso bei den Weltcupgesamtwertungen. Kurz: Sie steht an der Weltspitze des Skicross und bereitet sich momentan wie jeden Sommer hier in Saas-Fee auf die Saison vor.
Ich überfliege noch meine Notizen, als die Bedienung kommt.
Geboren wurde Fanny Smith 1992 in Aigle, aufgewachsen ist sie in Villars-sur-Ollon. Der Vater ist Skilehrer, die Mutter, nun pensioniert, unterrichtete früher an der Primarschule. Eine kleine Schwester hat Fanny, einen grossen Bruder auch. Mit zwei stand sie bereits auf den Skiern, «and a passion was born», schreibt sie auf der eigenen Website.
Wir bestellen zwei Cappuccinos.
Was bedeutet dir Skifahren? Ich falle mit der Tür ins Haus. Sie denkt kurz nach und sagt dann ohne Umschweife: «Freiheit. Wenn ich Ski fahre, der Wind durch meine Haare wirbelt, ich die Sonne auf meinem Gesicht und frische Luft in meinen Lungen spüre, fühle ich mich frei. Dann stehe ich mitten im Leben, dann bin ich eins mit dem Augenblick.» Ob sie schon immer gewusst habe, dass sie einmal Profi-Sportlerin werde? «Das nicht …», antwortet sie zögernd. «Aber ich hatte nie so etwas wie einen Traumberuf. Ich wollte immer nur Ski fahren.»
«Dyslexie hat mich zur Kämpferin gemacht.»
Ein älterer Herr schiebt sich vorbei Richtung Bar und nickt uns freundlich zu. Fanny strahlt für uns beide zurück und hält einen Moment inne, bevor sie weiterspricht.
«Die Schule war ein Albtraum für mich. Ich leide unter Dyslexie, und was anderen leichtfiel, war eine unglaubliche Arbeit für mich. Ich musste furchtbar viel lernen für die Schule», erzählt sie mit der Leichtigkeit von jemandem, der Limonade aus den Zitronen des Lebens gemacht hat. «Meine Mitschüler machten sich lustig über mich. Sogar Lehrer hatten zum Teil wenig Geduld. Es war grauenhaft. Dafür erntete ich Respekt ausserhalb der Schule. Auf Skiern habe ich mich Sachen getraut, die sonst keiner machte. Ich war eine richtige Draufgängerin!», lacht sie. Es ist ein ansteckendes Lachen, natürlich und aus tiefstem Herzen. «Wolltest du deinen schulischen Misserfolg mit waghalsigen Abenteuern wettmachen?», hake ich ein. «So würde ich das nicht sagen», antwortet sie mit einem Augenzwinkern.
Die Cappuccinos werden serviert, Fanny dankt höflich und greift nach der Tasse.
«Du hast aber in einem Interview gesagt, dass die Dyslexie dich zum Champion gemacht hat», bohre ich weiter. Sie überlegt kurz. «Die Dyslexie hat mich arbeiten gelernt. Weisst du, ich habe mich immens angestrengt in der Schule und war trotzdem oft erfolglos. Aber ich habe immer weitergemacht. Diese Lektion habe ich nie
vergessen: Der Weg zum Erfolg kann lange und hart sein. Selbst wenn du kämpfst und alles gibst, ist dir der Erfolg nicht sicher. Ich habe gelernt, Niederlagen wegzustecken und weiterzugehen. Die Dyslexie hat mich zur Kämpferin gemacht», sagt sie und nimmt einen Schluck Cappuccino. «Egal, was dir das Leben unterjubelt – lass dich nie aufhalten!», schiebt sie nach. Nichts an ihrer Antwort lässt Raum für Zweifel.
«2011 bist du im Weltcup verunfallt – erzähl mir davon», wechsle ich das Thema. Fanny stellt die Tasse ab, ihr Blick schweift kurz ab. «Es war im Dezember, und ich habe mir das ganze Knie zerfetzt. Ich wurde im Spital in Bern kurz vor Weihnachten operiert. Ich kann mich noch genau an den Moment erinnern, als der Chirurg nach der Operation in mein Zimmer kam und zu mir sagte, dass ich wahrscheinlich nie wieder Ski fahren würde. Ich dachte mir nur: Du wirst es schon sehen – nächstes Jahr stehe ich wieder auf den Skiern!», sagt sie, und in ihren Augen funkelt die Kraft eiserner Beharrlichkeit. «Das war dein erster Gedanke? Du hattest keine Angst?», frage ich verblüfft. «Ich habe eigentlich vor nichts Angst», erwidert sie nüchtern. «Man kann alles bewältigen, wenn man an sich glaubt und bereit ist, zu kämpfen. Ich hatte keinerlei Zweifel. Meine ganze Reha wurde ich vom Gedanken getrieben, dass ich wieder Ski fahren kann – mindestens so gut oder sogar besser als zuvor», strahlt Fanny mit dem triumphierenden Stolz, Recht behalten zu haben.
Ich beisse in den Keks, der mit dem Cappuccino serviert wurde.
«Sprechen wir von Sotschi», fahre ich weiter. Sie nickt und richtet sich im Sofa auf. 2014 war sie in Sotschi als Weltmeisterin mit der Mission angetreten, eine Medaille zu gewinnen. Das Vorhaben scheiterte nach einem Fahrfehler und dem Aus im Halbfinal. «Sotschi hat mich lange verfolgt. Meine Träume, meine ganze harte Arbeit. Alles ging zu Bruch. Körperliche Schäden sind eine Sache, du heilst relativ schnell. Aber wenn du mental etwas davonträgst – das kann Jahre dauern. Ich habe nach Sotschi das Vertrauen in mich selbst verloren. Ich war mir einer Medaille so sicher, dass ich waghalsig wurde. Ich wollte eine neue Kombination probieren, habe einen Fehler gemacht und wurde disqualifiziert», erzählt sie. «In Sotschi habe ich auf meinen Instinkt gehört und deswegen verloren. Damit habe ich lange gekämpft.» Einen Moment lang tanzen die Sommersprossen nicht in ihrem Gesicht. «Bist du erst mit der Bronzemedaille in Pyeongchang darüber hinweggekommen?», frage ich. Sie blüht sofort wieder auf: «Genau! Die olympische Medaille von Südkorea hat mir wieder Vertrauen in meinen Instinkt, letztlich mich selbst gegeben.»
«Ich habe gelernt, Niederlagen wegzustecken
und weiterzugehen.»
«Denkst du manchmal darüber nach, was nach dem Skifahren kommt?», frage ich. «Überhaupt nicht. Man kann nur in der Gegenwart leben. Wenn du darüber nachdenkst, was später kommt, dann bist du abgelenkt und nicht im Moment. Meine Eltern haben mich gelehrt, im Jetzt zu leben und mich nicht um die Zukunft zu
sorgen – sie kommt sowieso. Ich weiss nur: Jetzt fahre ich Ski und ich mache es mit meinem ganzen Herzen und meiner ganzen Seele. Genauso werde ich alles andere machen, was es auch sein wird.»
Fanny stellt ihre leere Cappuccino-Tasse hin, den Keks lässt sie liegen. Sie verabschiedet sich und marschiert mit festem Schritt zur Tür hinaus. Kaum hat sie das Hotel verlassen, scheint es ein klein wenig dunkler zu sein. In mir hallen Fannys Energie, ihr Frohmut und ihre Herzlichkeit nach. Morgen steht sie wieder auf den
Skiern, wirbelt die Saas-Feer Gletscherpisten runter und zeigt uns, wie schön Freiheit aussehen kann.
Bilder: Maurin Bisig/Red Bull Content Pool
Ruedi Flück/Red Bull Content Pool