Vom Arbeiten und Scheitern eines Eismeisters
Saas-Fee hat eine der schönsten Natureisbahnen der Welt. Otto Zengaffinen sorgt sich seit Jahrzehnten um das Eis. Doch was, wenn das Wetter es anders will?
An den Weihnachtstagen steht Otto Zengaffinen oft an der Bande der Eisbahn von Saas-Fee. Er blickt auf die Touristen und Einheimischen, die Schlittschuh laufen oder Eishockey spielen. Er sieht junge Leute, die Curling-Steine über eine Bahn schieben. Das Eis ist 30 Zentimeter dick, 1200 Kubikmeter gefrorenes Wasser. Otto, den alle kennen und duzen, sagt: «Eismachen ist eine Wissenschaft. Und ein bisschen Magie.» In der Schweiz gibt es rund 400 Anlagen für Eissport, die meisten sind Eishallen oder Kunsteisbahnen im Freien. Otto kümmert sich um die meistgenutzte Natureisbahn der Schweiz. Er spritzt, wässert, pflastert, giesst und putzt von Anfang November bis Mitte Februar. Eine Lokalzeitung schrieb einmal, Otto flüstere zum Eis. Ottos Geschichte ist die Geschichte eines Sisyphos in Eis und Schnee.
Jedes Jahr beginnt Otto am 10. November mit dem Eismachen, weil die Sonne den Sportplatz dann kaum mehr erreicht. Otto steht mitten auf dem Sportplatz, im Dunkeln der Nacht. Er trägt Stiefel, Skihosen, eine Daunenjacke, orangefarbene Handschuhe, eine Mütze. Er berieselt die Fläche des Sportplatzes mit einem Spritzer und einem dicken Schlauch. Er geht umher, schaut, greift in den Boden.
Otto vereist 4500 Quadratmeter. Sie bestehen aus einem Hartgummifeld, mehreren Tennisplätzen und einer Betonfläche. Der Hartgummi konserviert die Erdwärme; das Wasser braucht lange, bis es darauf gefriert. Im sandigen Tennisplatz versickert viel Wasser, bevor sich Eis bildet. Nur auf dem Beton wird das Wasser schnell zu Eis. Otto macht Schicht um Schicht. Pro Stunde schafft er einen Millimeter Eis. Im besten Fall braucht Otto drei Wochen bis zum spielfertigen Eis. Der beste Fall ist ein frommer Wunsch.
Otto wuchs in Siders auf, im Walliser Talgrund. Er lernte Schlittschuhlaufen auf einem zugefrorenen Ausläufer der Rhone. Schon als Kind arbeitete er im Landwirtschaftsbetrieb der Eltern, einer Geflügelfarm und Obstplantage. Er bediente Maschinen, kämpfte mit der Natur und gegen sie – wie heute. 1964 zog Otto ins Saastal. Er spielte Eishockey für Saas-Grund in der 1. Liga und später für Saas-Fee. Wegen Vreni blieb er im Tal, sie bekamen drei Kinder.
Wenn das Flutlicht der Eisbahn von Saas-Fee im November zum ersten Mal brennt, ist das für viele Kinder im Dorf ein Ereignis. Wie Weihnachten, Ostern, das Grümpelturnier. Otto kündigt seit 30 Jahren den Winter an.
Mitte November misst das Eis meistens schon 5 Zentimeter. Doch dann kann plötzlich die Wärme kommen, der Föhn. Die Schicht schmilzt in wenigen Stunden dahin. Das Eisfeld wird zum Wasserbecken. Otto fühlt sich ohnmächtig.
1984 suchte Otto eine Arbeit, wurde Mitarbeiter der Pistenrettung im Skigebiet von Saas-Fee. Im Stillen wünschte er sich, Abwart im Sportplatz zu werden. Kurze Zeit später wurde die Stelle frei. Im November 1988 präparierte Otto erstmals das Eis. Er versuchte, wagte, scheiterte, lernte. Bald fand ein Senioren-Eishockeyturnier statt. Otto hatte in den Tagen vor dem Turnier zu viel Wasser auf das Eis gespritzt. Das Eis war gewachsen, doch im Inneren bildeten sich Pfützen und Hohlräume. Die Spieler brachen ein. Otto schämte sich.
In den ersten Jahren schlief Otto im Frühwinter wochenlang in der kleinen Buvette des Sportplatzes, auf einem Liegestuhl aus Plastik, eingehüllt in Militärdecken. Mehrmals in der Nacht stand er auf, lief mit Giesskanne und Schaufel umher, beregnete das Eisfeld, festigte den Pflotsch. Und wenn er am Morgen mit dem Velo durchs Dorf fuhr, fragten ihn die Schulkinder: «Otto, wann können wir endlich aufs Eis?»
Nach einem Föhneinbruch muss Otto mit dem Eismachen von vorne beginnen. Er ist froh, wenn es ein paar Zentimeter schneit. Er montiert dann eine Walze eines alten Pistenfahrzeuges an seine blaue Eismaschine, Typ Zamboni 440, Jahrgang 1992. Er fährt mehrmals die gesamte Eisfläche ab, drückt den Schnee platt wie eine Walze den Teer. Dann wässert er den Schnee. Der Schnee saugt das Wasser auf, gefriert. Es folgen klare, kalte Tage. Doch Otto bangt. Wenn jetzt Schneemassen vom Himmel fallen, muss Otto die Eisfläche mit der grossen Fräse vom Schnee befreien. Das Eis würde einbrechen. Otto müsste wieder von vorne beginnen.
Jeder Winter ist anders, jeder Winter bringt Kälte und Wärme, Regen und Schnee, Nebel und Sturm. Ist die Luftfeuchtigkeit hoch, wächst das Eis schnell an. Otto hobelt es mit dem scharfen, quer montierten Messer seiner Eismaschine ab. Wenn es stürmt, bleibt Schnee an den Banden kleben. Otto schabt ihn mit der Schaufel ab. Wenn es warm wird, sinken die Tore ins Eis. Otto prüft jeden Tag den Wetterbericht auf dem Handy. Manchmal wird er fast verrückt. Otto sagt, das Eismachen halte ihn jung. Die Leute im Dorf sagen, Otto sehe seit 30 Jahren gleich aus. Otto sagt, um gutes Eis zu machen, müsse man viel arbeiten. Und ein gutes Gefühl haben für die eigenen Kräfte und die der Natur.
Otto arbeitet stets mit einem abgewetzten Schlauch. Dreht er den Wasserhahn voll auf, schlägt der Schlauch durch den Wasserdruck wild aus, nach links, nach rechts, nach oben. Früher rief Otto seine Freunde zu Hilfe. Zu dritt hielten sie den Schlauch der Feuerwehr.
Die Eisfläche arbeitet wie ein Gletscher, sie lebt. Beträgt die Temperatur circa null Grad, ist das Eis weich, geschmeidig, fast still. Dann gleiten die Eishockeyspieler wie auf Schienen darüber. Wird es kälter als minus acht Grad, rumort das Eis, bewegt sich, bricht. Risse bilden sich bis in den Boden. Otto füllt mit einer Spachtel Schneepflaster in die Spalten – als setze er Keile ins Holz.
Anfang Dezember misst das Eis im besten Fall 20 Zentimeter. Doch oft schlägt das Wetter um, Regen fällt und nasser Schnee. Otto räumt dann den Matsch vom Eis. Wenn der Matsch gefriert, ist das Eis kaputt; es liesse sich nicht mehr ebnen. Otto fährt manchmal zwölf Stunden auf der Zamboni, macht nur kurze Pausen. Er muss langsam und hochtourig fahren, sonst verstopft die Maschine. Otto legt sich für eine Stunde hin, isst ein Sandwich. Dann setzt er sich wieder auf die Maschine, nochmals zwölf Stunden lang. Er ist durchnässt, friert, flucht in sich hinein.
«Eismachen ist eine Wissenschaft.
Und ein bisschen Magie.»
Otto war mehr als 20 Jahre lang der Goalie im EHC Saas-Fee. Wenn er keinen Ersatz für die Eisreinigung fand, setzte er sich in der Pause mit der schweren Torhüterrüstung auf die Eismaschine, putzte das Eis, trank schnell einen Kaffee und stand wieder ins Tor. Einmal bewarb sich Otto für «Wetten, dass … ». Er stand in Badehosen bekleidet ins Tor, wehrte die Pucks mit einer Schneeschaufel ab. Im Sommer stellte sich Otto fürs Training mit dem Fanghandschuh auf eine Wiese. Die Nachbarskinder warfen mit Kartoffeln und kleinen Steinen auf ihn. Zum letzten Mal spielte Otto mit 59 Jahren, ein Match der 3. Liga in Verbier. Otto blieb ohne Gegentor.
Am 10. Dezember scheint die Sonne jeweils nicht mehr auf das Eisfeld, sie wird vom Mittagshorn verdeckt. Die Temperaturen liegen meistens unter null. Das Eis ist rund 25 Zentimeter dick. Es braucht diese Dicke, um sich selbst zu kühlen. Mitte Dezember zeichnet Otto mit Naturfarbe die Spielfeldlinien aufs Eis. Die Farbe ist ein fremder Stoff in der Masse. Sie frisst sich ins Eis, wenn es warm wird. Immer wieder zeichnet Otto im Winter die Linien nach.
Otto hat das Eis von Saas-Fee mehr als tausend Nächte gehütet. Das Eis, das verschwindet, wenn im Februar die Natur erwacht. Otto ist im Stundenlohn angestellt. Manchmal vergisst er, einzustempeln. Manchmal trifft es ihn, wenn die Leute sagen, Eismachen sei keine Hexerei.
Otto hat schon mehrmals seinen Abgang angekündigt und mehrmals seinen Kasten geräumt. Er hatte genug, wollte den Winter mit den Enkelkindern verbringen. Alle spielen sie Eishockey, der Jüngste im SC Bern. Doch immer im Herbst wird Otto wieder angerufen. Ob er helfen könne. Otto sagt dann immer, wenn schon, dann mache er das Eis allein. Otto wird angezogen von etwas, er weiss nicht, was es ist. Er sagt, er möge die Kälte. Und die Stille in den langen Nächten. Otto sagt auch: «Wenn ich aufhöre, macht es vielleicht niemand mehr.»
Die vollständige Version dieses Artikels ist am 24. Dezember 2018 in der NZZ erschienen.
Bilder: Nathalie Taiana