„Man braucht Nerven wie Drahtseile“
Die letzte Abfahrt gehört ihnen. Sie sprengen Lawinen, setzen Markierungen, retten verletzte Schneesportler. Rettungschef Albert Hegner über Gefahren und darüber, was sein Team leistet, damit die Gäste sorglos Ski fahren können.
«Dann soll er halt den Motor kurz abstellen.» Bärti, wie Albert Hegner von allen genannt wird, lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Auch nicht von einem wartenden Helikopterpiloten, der ihn zu seinem nächsten Einsatz fliegt. Eine Lawine hat einen Messpunkt beschädigt, Bärti muss den Schaden einschätzen und falls möglich gleich reparieren.
Bärti Hegner, die Ruhe selbst? Er lacht: «Ich rege mich höchstens fünf Minuten auf. Es ändert ja doch nichts.» Aber einen Plan B habe er immer – und Nerven wie Drahtseile.
Gelassenheit ist unentbehrlich in einem Job, in dem sich die Situation ständig ändert. Routine ist ein Fremdwort für Bärti. Sein einziger Fixpunkt ist halb fünf Uhr morgens in seinem Büro an der Talstation: Er analysiert die vergangene Nacht, trägt die Informationen seiner Pistenraupenfahrer zusammen. Dann schätzt er die Lawinensituation für den Tag ein und entscheidet, ob das Skigebiet geöffnet wird. Das Schweizer Lawineninstitut SLF gibt eine Empfehlung für das Gebiet ab, diese dient ihm als Orientierung. Zudem tauscht er sich mit seinem Vorgänger Dominik Kalbermatten aus, der seit 25 Jahren im Gebiet tätig ist und viel wertvolle Erfahrung hat. Manchmal mus Bärti die Gefahrenstufe auch erhöhen. Als Rettungschef des hochalpinen Skigebietes Saas-Fee ist er der Mann mit der wohl grössten Verantwortung. Das Skigebiet beginnt auf einer Höhe, wo viele andere enden: auf 1800 Metern über Meer. Oft muss er heikle Entscheidunge treffen, die Lawinensituation ist selten glasklar. Als Rettungschef ist er für die Sicherheit des ganzen Gebietes verantwortlich. Ist die Lawinensituation zu brenzlig, wird gar evakuiert. Solche Entscheide spricht er mit der Geschäftsleitung der Bergbahnen und dem Krisenstab der Gemeinde ab.
Nach grossen Schneefällen bleibt das Skigebiet meist erst mal geschlossen. So lange, bis Bärti und sein Team den Schnee aus den steilen Hängen gesprengt haben. Mit dem Helikopter – oder auf den Tourenskiern, wenn es nicht anders geht. Dann ist Bärti gerne mal mit 20 Kilo Sprengstoff im Rucksack unterwegs. Ob er keine Angst habe? «Schwer ist es», meint er mit einem Augenzwinkern. Sind die schneereichen Hänge entladen, wird die Lawinensituation nochmals neu beurteilt. Bei vertretbarem Risiko wird das Schneesportgebiet geöffnet. Trotzdem, Garantie gibt es keine, erklärt Bärti: «Den Respekt darf man nie verlieren. Lawinengefahr herrscht, solange Schnee liegt.»
Heimtückisch sind auch Gletscherspalten. Diese sind im Winter unter dem Schnee versteckt. Bärti kennt das Gebiet und kann das Gelände gut einschätzen. Trotzdem, Abfahrten neben der Piste sind ihm zu gefährlich. Zu viel hat er schon erlebt. Wie etwa den Rettungseinsatz, als ein junger Snowboarder unterhalb des Allalinhorns in eine Spalte fiel. Trotz der aufwendigen Rettung starb der Snowboarder im Spital. Solche Fälle gehen Bärti nahe. Vor allem wenn Kinder betroffen sind, erzählt er und wird nachdenklich. «Während des Einsatzes funktioniere ich einfach, spule den trainierten Ablauf ab. Aber danach komme ich schon ins Grübeln.» Auch wenn er die Opfer nicht gekannt habe, es sei ja immer ein Mensch, ein Schicksal. Um solche Erlebnisse zu verarbeiten, wird viel geredet im Team. Als Vorgesetzter sucht Bärti das Gespräch, wenn er spürt, dass jemand an einem Vorfall nagt.
Aber für Bärti ist Rettungschef der Traumberuf. Die Dankbarkeit der Menschen, die er und sein Team gerettet haben, freut ihn besonders. Viele melden und bedanken sich.
Schattenseiten gibt es trotzdem. Patrouilleure sind bei jedem Wetter draussen und müssen manchmal mitten im Schneesturm, bei -20 bis -30 Grad und 50 bis 80 km/h Wind, die Handschuhe ausziehen, um die Sprengladung zu zünden. Und manchmal braucht Bärti eine dicke Haut. Nicht alle Gäste verstehen, wenn im Frühling an einem Postkartentag Teile des Gebietes wegen Lawinengefahr geschlossen werden müssen. Aber die Sicherheit der Gäste geht für Bärti vor. Immer, da lässt er nicht mit sich reden. Auch wenn es einen Verlust für die Bergbahnen bedeutet.
Der Pistendienst von Saas-Fee arbeitet eng mit der Air Zermatt zusammen. Für komplexe Rettungen in unzugänglichem Gelände fordert Bärti den Heli an. Für Rettungen aus Gletscherspalten zum Beispiel wird viel Material benötigt, ein Dreibein oder eine Lichtanlage, falls der Einsatz bis in die Nacht dauert. Hegner und sein Team unterstützen dabei die Air Zermatt. Wird es für die Retter zu gefährlich, müssen sie den Einsatz abbrechen. Das ist besonders schlimm, wenn noch Menschen vermisst werden. Schlechtes Wetter hält Bärti und sein Team jedoch nicht von der Arbeit ab. Wenn die Bahn wegen Wind nicht fährt, rücken sie mit dem Schneetöff aus – oder notfalls per Tourenski. Seine Patrouilleure stellen die erste Diagnose noch auf der Unfallstelle. «In 98 Prozent der Fälle liegen wir richtig!», erzählt Bärti voller Stolz auf sein erfahrenes und kompetentes Team.
Ursprünglich hat Bärti Landwirt gelernt. Danach war er einige Jahre auf dem Bau, montierte Fenster im Akkord. Bis ihn eines Tages Wendelin Keller, Geschäftsführer des Skigebietes Hoch-Ybrig, beim Znüni fragte, ob er nicht Lust hätte, Pistenpatrouilleur zu werden? Er suche noch Leute für den Winter. Warum nicht, dachte sich Bärti und besuchte den Patrouilleurenkurs in Arosa. Ahnung hatte er damals keine. Pistenmarkierungen interessierten ihn nicht, er wollte nur möglichst schnell die Pisten hinunterheizen, erzählt er lachend. Wendelin Keller lehrte ihn, Entscheidungen zu treffen und Verantwortung zu übernehmen im Skigebiet. Wendelins Hartnäckigkeit verdankt Bärti seine heutige Stärke in seinem Job. Plötzlich knackt sein Funkgerät, der Helikopterpilot klingt ungeduldig. «Verstanden, ich bringe die Motorsäge mit», quittiert Bärti und beeilt sich jetzt doch. Der Einsatz wartet!