Erinnerungen an Abenteuer in den Alpen: Die Allalinbesteigung von 1943
Vor einigen Monaten haben wir ein bemerkenswertes historisches Artefakt erhalten, das uns auf eine faszinierende Zeitreise mitnimmt. Es handelt sich um ein Tagebuch, dessen Seiten die Ereignisse zwischen dem 12. Juli 1943 und dem 31. Juli 1943 im Ferienlager Saas-Fee lebendig werden lassen. Über Jahrzehnte führte dieses Tagebuch ein stilles Dasein, bewahrt von Frau L. Kaufmann-Altermatt, einer Teilnehmerin dieses unvergesslichen Camps. Nun ist es wieder aufgetaucht, um uns in die Vergangenheit zu entführen und uns an den aussergewöhnlichen Abenteuern vor genau 80 Jahren teilhaben zu lassen.
Im Sommer des Jahres 1943 reiste Frau Klara Freidmann, von allen liebevoll „Müetti“ genannt, in ein idyllisches Ferienlager nach Saas-Fee. Ihre Aufzeichnungen, die uns heute vorliegen, führen uns zurück in eine Zeit, in der die Welt von Krieg und Unsicherheit geprägt war. Doch selbst in diesen turbulenten Zeiten fanden Müetti und ihre Feriengruppe Trost und Abenteuer in den majestätischen Schweizer Alpen.
Unser Blick richtet sich heute auf den Eintrag vom 28. Juli 1943, der von einem ganz besonderen Ereignis handelt: der Besteigung des Allalins. Begleite uns auf eine faszinierende Reise in die Vergangenheit, während wir Müettis Worte entschlüsseln und die Geschichten von Mut, Gemeinschaft und der Faszination für die schneebedeckten Gipfel der Alpen aufleben lassen.
Mittwoch 28, Juli 1943
Kurz nach 3 Uhr klingelte der Wecker. In diesem Moment hörte ich, wie Herr Vikar Guldimann kam, um uns zu wecken. Schnell den Mantel angezogen und schon stand ich noch etwas verschlafen an der Tür. Ich wünschte einen guten Morgen. Bald darauf war alles lebendig im Haus und nach einigen Minuten eilten wir in die Kirche. Mit dem Priester vereint beteten wir die uralten, heiligen Opfergebete in der Sprache der Kirche. Lilly und Annemarie durften heute den „halben“ Ministrantendienst übernehmen: Hell und kräftig tönten von den beiden die Glöcklein bei der Opferung, Wandlung und Kommunion. Brav haben sie es gemacht! Mit einem Dankgebet an den lieben Gott, der uns wieder einen sonnenvollen Tag schenken wird und mit dem Segen des Priesters traten wir wieder in das wunderbare Walliserland hinaus.
Hier wäre zwar noch etwas zu erzählen von jenem Toten, dessen Grabhügel zeuge war von einer dramatischen, auswurfspeienden Magenszene unseres lieben Martheli.
Nach dem Frühstück kam der Bergführer Bumann, ein Heerespolizist, ein Herr Lehrer Wyss von Olten mit seiner Frau und ein Frl. Probst zu uns. In dieser Gemeinschaft gedachten wir, unsere zweitägige Tour durchzuführen.
Welch ein herrlicher Morgen strahlte von den weissglühenden Häuptern der Bergriesen: Die silberweissen Gipfel glänzten in der aufgehenden Sonne, während ein schöner Lila-Schatten auf den Gletschern lag. Im Gänsemarsch stiegen wir den Berg hinauf. Jeder hing still seinen Gedanken nach und bewunderte die Schönheit und Unberührtheit der reinen Bergwelt. Ringsrum grüssten uns diese grossen, erhabenen Berge mit ihren Felstürmen und schneebedeckten Kronen. Sie zeigten uns tausendfach das Traumschöne dieser Erde, das still und doch so wuchtig von Gottes Grösse kündet. Wie lieb, edel und schön glänzten die vielen bunten Blumen im Morgentau, die frei und ungezählt dem dunklen Erdreich entsprossen. Das samtweiche Moos leuchtete in tiefem, dunklem Grün und umwob die kantigen Felsen mit einem weichen Teppich. Kleine Wässerlein, welche von den Regionen des ewigen Schnees herunterkollerten, plätscherten in der warmen Julisonne.
Mitten in dieser Versunkenheit kam plötzlich Martehli zu mir. Mit kreideweissem Gesicht stand er da. Sofort war die Apotheke zur Hand. Ich verabreichte ihm eine Stück Zucker und Zellerbalsam, und wirklich darauf die ganze Sauce, die es geplagt hatte, heraus – zum zweiten Mal!
Nun waren wir bei der Längfluh angelangt, und zwar hielten wir hier Znünirast. Unser besorgter Herr Vikar Hunziker fand, ein Tässchen Tee würde niemanden schaden. So machten wir uns es gemütlich in der Hütte drin. Weniger gemütlich fanden wir aber die Rechnung, die dabei herausschaute, aber trotzdem, der warme Tee hatte gutgetan.
Nun kam ein interessantes Stück, das wohl keines mehr vergessen wird. Wir wurden in Partien angeseilt. Nachdem man uns noch einige Lehren mitgegeben hatte, wie das Seil zu fassen sei, dass es nicht nass werden dürfe usw., begann die Gletschertour. Hier konnte man schon weniger seinen Gedanken nachhängen, sonst musste man es büssen, wenn man nicht immer in die gleichen Fusstapfen trat.
Hoppla, auf einmal sank wieder ein Bein in den tiefen Schnee, und da kostete es oft nicht geringe Mühe, das Gleichgewicht herzuschaukeln. Es ereigneten sich manchmal ganz lustige Szenen. „Gelt, Lucie, nächstes Mal probierst du den Weitsprung etwas weiter! Und Annemarie, welches einmal ins Kollern kam, konnte natürlich vor lauter Lachen fast nicht mehr aufstehen.
Drei Stunden waren wir nun schon über den Gletscher geschritten. Für heute waren wir am Ziel: Vor uns hob sich vom blendenden Weiss des Firnschnees die Britannia-Hütte ab. Vom vielen Schneestampfen waren unsere Füsse ganz durchnässt. Als erste Sorge galt uns, Strümpfe und Schuhe auszuziehen. Ein erquickliches Gaudi war es schon, wie wir in diesen allzu grossen Holzschuhen daherschlurpten. Lilly besonders hatte grosse Mühe, dass es nicht eine Grösse 48 erwischte und in solchen Kolossen von Schuhwerk seine niedlichen Füsschen „hineinzwängen“ musste. Wir richteten uns in der Hütte recht behaglich ein. Zum Mittagessen wurde eine feine Flädlisuppe aufgetischt. Eine halfen mir die Brote zu schmieren, so dass in kurzer Zeit, zwar kein Schneeberg, aber ein Berg bestrichener Brote vor uns lag.
Nach dem Essen zogen sich alle in den Schlafraum zurück und nicht lange darauf ertönte aus diesem Teil des Hauses ein Konzert, das würdig gewesen wäre, im Radio Beromünster übertragen zu werden. In verschiedenen Tonarten klangen die Töne zusammen. Hin und wieder fuhr ein nervenpeitschender Moll-Ton in fortissimo dazwischen. Alles in allem, man bekam immer mehr und mehr den erfreulichen Eindruck, dass die Musikanten ihre Sache verstanden und unübertreffliche Meister in ihrem Instrument waren. Wir schliefen aber ausgezeichnet.
Gegen 1:30 Uhr war Abmarsch der fünfte, die nicht mit aufs Allalinhorn kamen. Der Heerespolizist und ein Bergführer nahmen diese in Schutz. Gegenseitiges frohes Winken, bis die Zurückgebliebenen die Hinuntersteigenden nicht mehr sahen.
Um 6 Uhr setzten wir uns zum Nachtessen an den Tisch. Es gab Suppe und Hackfleisch. Doch wirklich nobel in einer Berghütte, nicht? Wir sassen dann noch lange gemütlich zusammen, erzählten einander dies und das und jubelten ein Lied nach dem andern. Es war so schön, inmitten all dieser schneebedeckten Riesen, dass wir ganz vergassen, uns zur Ruhe zu begeben, bis uns Herr Vikar Hunziker daran erinnerte. Nach einem kurzen Nachtgebet krochen wir auf unsere Lager, und bald war alles mäuschenstill.
Mitten in der Nacht ging auf einmal ein Poltern los. Man vernahm schwere Tritte genagelter Bergschuhe, die sich immer mehr unserem Schlafraum näherten. Mit einem Ruck flog die Türe auf, das blendende Licht einer Taschenlampe flutete herein, dahinter erhob sich eine grosse, schwarze Gestalt. Es war unser Bergführer, der uns wecken kam.
Die Uhr zeigte morgens 2 Uhr. Wir waren bald fertig. Die Kleider hatten wir gestern nicht ausgezogen, und in einer Berghütte ist es nicht üblich, grosse Toilette zu machen. Bei Herrn Guldimann stellte sich heute wieder der Korporal in den Vordergrund. Seine Kommandostimme hallte über die schlafende Menge und riss sie unbarmherzig aus ihren süssen Träumen: „Kissen und Wolldecken in Reih und Glied, schön ausgerichtet“ Wir gaben uns alle Mühe, um den Gestrengen zu befriedigen, doch hie und da zupfte er noch etwas zurecht. Als wir in den Essraum traten, stand auch schon der dampfende Kakao auf dem Tisch.
Um 3 Uhr konnte es losgehen: wir wurden vor der Hütte angeseilt. Wiederum benützten wir drei Gletscherseile. Mit Laternen in der Hand schritten wir hinaus in die klare Sternennacht. Solche Schönheit-zu schildern, ist beinahe unmöglich. Ein sternenübersäter Himmel wölbte sich über unseren Häuptern. Die weissen Bergzipfel hoben sich klar & rein, vom ruhigen Mondschein beleuchtet, vom dunklen Horizont ab.
Tiefe Ruhe in dieser Nacht noch über dem Gipfelkranz all dieser Berge, welche in jener Nacht so kühl und einsam dastanden. Es war, als würden diese Berge Wacht halten über unserem kleinen Land. Es schien, als würden sie sich zusammenscharen zur starken Freiheitskrone unserer Heimat, welche die allmächtige Hand des Schöpfers geschaffen hat.
Allmählich verblassten die Sterne, und schon entdeckten wir das erste kleine Rot der aufgehenden Sonne. Immer grösser, immer schöner und strahlender leuchtete dieses Rot, bis die sieghafte Sonne wie eine feurige Kugel über den Gipfeln thronte. Es entfaltete sich eine unbeschreibliche Pracht. Die weissen Berge erglühten in Purpurrot. Alles schien wie in Blut getaucht. Vor lauter Bewunderung musste man fast das Te Deum anstimmen. Doch in diesem Augenblick war es nicht möglich — so sparten wir es auf später auf.
Um 6 Uhr machten wir eine Rast. Für Lilly war es höchste Zeit, dass es abgeseilt wurde, sonst hätte es beinahe ein Unglück gegeben: Kein gefährliches zwar, dafür aber ein ungemütliches.
Bald darauf begann die Kletterei, auf die sich schon alle Kinder gefreut hatten. Ich schaute zwar mit etwas gemischten Gefühlen da hinauf, aber es war lange nicht so schlimm wie es aussah. Immer höher und höher stiegen wir. Um 10 Uhr hatten wir unser Ziel erreicht.
4030 m Höhe: Es war einem ganz eigentümlich zu Mute, als der Bergführer mit der Mütze in der Hand zuoberst stand und jedem einzelnen gratulierte und dankte. Unser Dank galt aber auch ihm. Wir genossen eine grossartige Fernsicht. Überall schauten wir auf schneebedeckte Kuppen der Gipfel hinunter. Ganz leicht und froh war es uns ums Herz.
Beim Aufstieg hatten sich alle tapfer und flott gehalten. Eine mächtige Freude durchquoll unsere Herzen, dass wir diese Spitze erklommen hatten. Wir hatten das Mittagessen redlich verdient.
Nacher erscholl das „Grosser Gott, wir loben Dich… und wahrlich, hier in der Nähe des Himmels, umgeben von einem Kranz zackiger Grate, empfanden wir so recht Gottes Grösse und Allmacht, die man anbeten muss. Lilly liess noch einen Jodler aus seiner Kehle schmettern. Dann begann der Abstieg. Diesen werde ich meinen Lebtag nicht vergessen. Ob ich es wohl schreiben soll? Wenigstens will ich verraten, dass ich mehr auf der Hinterpartie rutschte, als auf den Füssen gegangen bin. Wenn es von vorn tönte: „Müetti, got’s? folgte stets die Antwort: „prima“ und schon machte ich wieder mit dem Schnee Bekanntschaft, zum grössten Vergnügen aller. Den einzigen Trost, den ich hatte, war, dass Herr Vikar Hunziker und Heidy, welche mich vorsorglich in ihre Mitte genommen hatten, auch mit dem Schnee vorliebnehmen mussten. Die Kinder fanden natürlich diese Heimfahrt toll, wie sie sich ausdrückten. Ich dagegen war froh, als ich wieder sichern Boden unter den Füssen spürte.
Nachmittags 1 Uhr waren wir glücklich im heimatlichen Hafen gelandet.
War das eine Wiedersehensfreude: Wiederum durfte ich erfahren, welch schönen Familienzusammenhang wir doch besassen. Diejenige, die am ersten Tag zurückgekehrt waren, hatten fest für uns gebetet, dass wir schönes Wetter hatten, und dass nichts geschehe. Als digen Abschluss des Tages braute ich einen guten Kaffee, dazu assen wir Brot, Butter, Konfitüre und Gugelhöpfli. Bald verschwand die Sonne hinter den Bergen, einen kleinen Strahl sandte sie uns noch zum Fenster hinein — einen letzten Gruss. Schlafet wohl. Gott sei mit Euch!
Nun war dieser schöne Tag zur Neige gegangen, doch ausgelöscht ist er Tief in unserem Herzen er eingeprägt, auf ewig, unauslöschlich.
Mit innigem Dank im Herzen Gott gegenüber begaben wir uns zur Ruhe.
Mit diesem ergreifenden Gipfelerlebnis und den unvergesslichen Erinnerungen an die Allalinbesteigung im Jahr 1943 schließen wir diesen historischen Tagebucheintrag.
Diese faszinierende Erzählung von Müetti und ihren mutigen Gefährten auf ihrer Allalinbesteigung im Jahr 1943 lässt uns eintauchen in eine Zeit voller Abenteuer und bewegender Momente. Diese unvergesslichen Augenblicke in den majestätischen Schweizer Alpen sind ein Zeugnis für den menschlichen Willen, die Natur zu erobern und die Schönheit der Welt zu schätze.